Denkzeichen zur Erinnerung
an die Ermordeten der NS-Militärjustiz
am Murellenberg, Berlin-Charlottenburg

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Wehrmacht-Erschießungsstätte Ruhleben ("Murellenschlucht")
Gutachten von Dr. Norbert Haase (1995)

Die Wehrmachtjustiz in der Endphase des Zweiten Weltkrieges

Die kritische wissenschaftliche Erforschung der Wehrmachtjustiz hat das von den Kriegsrichtern gezeichnete Bild einer "rechtsstaatlichen" Justiz der Wehrmacht zerstört. Das Bild der neueren Forschung konfrontiert die Version der Täter, stets um Distanz zum NS-Regime bemüht gewesen zu sein, mit den Fakten einer Kriegsgerichtsbarkeit, die wie der Volksgerichtshof und die Sondergerichte in der NS-Zeit an der "inneren Front" zur Sicherung der äußeren das Recht sträflich missbrauchte, um das System zu stützen. Einzelfallgerechtigkeit oder die Würdigung der Motive von Beschuldigten blieben zugunsten einer generalpräventiven Abschreckungsdoktrin auf der Strecke, die die Kriegsbereitschaft der deutschen Soldaten bis zuletzt aufrechterhalten sollte.

Die Spruchpraxis war stark geprägt von Richtlinien der Führung, eine unabhängige Rechtsfindung war unter diesen Umständen ebenso unmöglich wie die Rechtssicherheit des Angeklagten. Einer exzessiven Todesurteilspraxis von schätzungsweise 30.000 Todesurteilen gegen Wehrmachtsangehörige steht ein barbarischer Strafvollzug in den verschiedenen Strafeinrichtungen von Wehrmacht und Reichsjustizverwaltung zur Seite, Das Bundessozialgericht hat durch sein Urteil vom 11. September 1991 (BSGE 69, 211, 218) die Ergebnisse der Forschung für eine rechtliche Bewertung der Wehrmachtjustiz in Betracht gezogen und sie als Instrument des politischen Terrorsystems der NS-Herrschaft bezeichnet. Die Richter des BSG-Senats, die erstmals in der bundesdeutschen Rechtsgeschichte der Witwe eines kriegsgerichtlich zum Tode verurteilten Deserteurs einen Anspruch auf Hinterbliebenenrente zubilligten, haben aber vor allem den Gesetzgeber aufgefordert, die Todesurteile der NS-Militärjustiz förmlich aufzuheben. Sie bewegten sich damit auf dem Boden neuerer Forschungsergebnisse und konnten folglich zu keiner anderen Einschätzung kommen, als die Kriegsgerichte der Wehrmachtjustiz als "Terrorjustiz" zu qualifizieren. Deren Ziel habe darin bestanden, rücksichtslos die Kampfkraft aufrechtzuerhalten", die Todesurteile seien "offensichtlich unrechtmäßig" gewesen, von einer "rechtsstaatswidrigen Entartung der Todesurteilspraxis" ist die Rede.
Diese Qualifizierung trifft insbesondere auf die Verfolgungspraxis nach dem 20. Juli 1944 zu. In der Endphase des Krieges, als die Standgerichte ihre Tätigkeit aufnahmen, entfachten Wehrmacht und Nationalsozialismus noch zuletzt einen beispiellosen Terror gegen das eigene Volk. Es ging Befehlshabern wie Justizorganen um eine Lebensverlängerung des NS-Staates um jeden Preis. Mit militärischen Ehrbegriffen und der Volksgemeinschaftsideologie wurde der bedingungslose Gehorsam der Soldaten verbrämt. Das Regime war unfähig und auch nicht willens, in den letzten Kriegswochen das vom Bombenkrieg zermürbte und geschlagene Volk von der Geißel einer widersinnigen Kriegführung bis zum letzten Blutstropfen zu befreien.
In der Endphase des Krieges wirkten im Wehrkreis III in Berlin vor allem drei Kriegsgerichte: das Gericht der Wehrmachtkommandantur Berlin, das Zentralgericht des Heeres sowie das Fliegende Standgericht des Befehlshabers im Wehrkreis III.
Das Gericht der Wehrmachtkommandantur Berlin hatte bereits vor dem Krieg bestanden. Seine Zuständigkeit erstreckte sich auf alle Militärbehörden und Truppenteile im Wehrkreis III Berlin, die über keine eigenen Kriegsgerichte verfügten. Es war seit dem 20. August 1942 zuständig für alle politischen Straftaten beim Ersatzheer, hatte darüber hinaus gerichtliche Befugnisse für Angehörige des Ersatzheeres und gegen Deserteure, deren Verfahren nach dreimonatiger ergebnisloser Fahndung von anderen Kriegsgerichten an das Gericht der Wehrmachtkommandantur abgegeben wurden. Generalfeldmarschall Keitel hatte das Gericht bereits 1943 Hitler gegenüber als ein "besonders schlagkräftiges und schnell arbeitendes Gericht" lobend hervorgehoben. In der Zeit seines Bestehens verhängte das Gericht Hunderte von Todesurteilen, die bis zum 20. Juli 1944 im Zuchthaus Brandenburg-Görden, erst danach in Ruhleben, vollstreckt wurden.
Die Zuständigkeit in politischen und einigen anderen Strafsachen ging auf das am 11. April 1944 ins Leben gerufene Zentralgericht des Heeres über. Auch das Zentralgericht des Heeres dürfte mehrere hundert Todesurteile verhängt haben, wenngleich sich diese heute nur zu einem Bruchteil nachweisen lassen. Das Fliegende Standgericht des Befehlshabers im Wehrkreis III, das nicht mit dem »Fliegenden Standgericht des Führers« verwechselt werden darf, wurde durch eine Anordnung des Befehlshabers im Wehrkreis III am 13. Februar 1945 aufgestellt. Es nahm unmittelbar darauf seine Arbeit auf. Am 15. Februar 1945 erließ der Reichsminister der Justiz, Thierack, darüber hinaus eine Verordnung über die Errichtung von Standgerichten im zivilen Bereich. Die Befugnisse des Gerichts waren mit denen anderer Standgerichte weitgehend identisch. Sie sehen nur das Todesurteil oder Freispruch vor. Eine Leitung durch einen Richter wurde zwingend vorgeschrieben. Rechtsmittel gegen das Urteil gab es nicht, eine Bestätigung durch den Gerichtsherrn war ebenso wenig erforderlich. Die Exekution erfolgte umgehend. Im Gegensatz zu anderen Standgerichten, die von Fall zu Fall aufgestellt wurden, wirkte das Fliegende Standgericht des Befehlshabers im Wehrkreis III für einen längeren Zeitraum. Nur in wenigen Einzelfällen sind Urteile anderer Kriegsgerichte, etwa von Dienststellen und Verbänden der Luftwaffe oder des Reichskriegsgerichts in Ruhleben vollstreckt worden.
Die Exekutionen wurden von Erschießungskommandos der Wehrmacht vorgenommen, die der Wehrmachtkommandant von Berlin in der Regel beim in Spandau stationierten Ersatz- und Ausbildungsregiment 523 anforderte. Es sind aber auch andere Einheiten quellenmäßig überliefert. Die Arbeit der Erschießungskommandos lief in der Endphase des Krieges offensichtlich auf vollen Touren. In der Zeit zwischen dem 3. Januar und dem 14. April 1945 wurden 139 zum Tode Verurteilte hingerichtet, an elf Tagen waren es mehr als fünf. Am 9. Februar starben 18 Soldaten, am 27. Februar 1945 12 und am 9. März 15 Verurteilte unter den Mündungsfeuern des Wehrmachtkommandos.
Verweis zum Denkzeichen am Murellenberg am ehemaligen Reichkriegsgerichtgebäude, Witzlebenstraße 4 - 10, Berlin-Charlottenburg


Die Opfer der Erschießungen in Ruhleben

Nach Auswertung der heute verfügbaren archivalischen Unterlagen konnte eine Zahl von 232 Personen ermittelt werden, die in Berlin-Spandau auf dem Erschießungsgelände Ruhleben in der Zeit zwischen dem 12. August 1944 und dem 14. April 1945 erschossen wurden. Diese Zahl kann jedoch nicht als vollständig bezeichnet werden. Anhaltspunkte für die Größenordnung einer unbestreitbar vorhandenen Dunkelziffer sind allerdings ebenso wenig vorhanden wie quellenmäßige Belege für Exekutionen vor dem 12. August 1944. Bei den Opfern handelt es sich bis auf einzelne Ausnahmen um Wehrmachtangehörige vorwiegend aus Mannschaftsdienstgraden. In Einzelfällen sind auch Offiziere, darunter zwei Generäle, unter den Opfern. Hinsichtlich der Alterstruktur der Opfer lässt sich sagen, dass der überwiegende Teil (40,4 %) der Altersklasse der 25-35jährigen entstammt, 22,4 % zwischen zwanzig und 25 Jahren alt sind, 7,8 %jünger als zwanzig, während 27,6 % die Gruppe der 35-45jährigen einnehmen.
Sofern es sich bestimmen ließ, kamen sie aus allen Teilen des damaligen deutschen Reiches, in Einzelfällen waren auch in die deutsche Wehrmacht zwangsrekrutierte Elsässer französischer Staatsangehörigkeit auszumachen. Man wird davon ausgehen können, dass sämtlichen nachweisbaren Erschießungen ein kriegs- bzw. standgerichtliches Urteil zugrunde lag. Für 30 Fälle liegen keine Angaben zum erkennenden Gericht vor. Das Gros der Verfahren – 85 Todesurteile – war jedoch vom Zentralgericht des Heeres durchgeführt worden, das Gericht der Wehrmachtkommandantur Berlin hatte 46 Todesurteile in Spandau vollstrecken lassen, während 54 Erschießungen auf das Konto des Fliegenden Standgerichts des Befehlshabers im Wehrkreis III zurückgingen. 17 Todesurteile entfallen auf andere Gerichte des Heeres und der Luftwaffe. Nur in Ausnahmefällen konnte ermittelt werden, wegen welcher Delikte die Soldaten erschossen worden waren. Doch gilt als sehr wahrscheinlich, dass die überwiegende Zahl der Todesurteile wegen Fahnenflucht und »Wehrkraftzersetzung« ergangen ist.
Es steht daher außer Zweifel, dass die in Spandau-Ruhleben erschossenen Soldaten, wie es insbesondere die aktenmäßig belegbaren Einzelfälle unterstreichen, Opfer einer politischen Terrorjustiz wurden.
Eine exemplarische Auswahl zeigt, dass sich unter den Opfern auch solche Menschen befunden haben, die in politischer Gegnerschaft zum NS-Regime standen. Nachfolgend sind einige Beispiele skizziert.


Raymund Biedenbach (1910-1944)
Der Sparkasseninspektor Raymund Biedenbach aus Fulda, Vater zweier Kinder und gläubiger Katholik, hatte 1943 an der Ostfront als Unteroffizier Hitlers Krieg als verloren bezeichnet und die nationalsozialistische Propaganda heftig kritisiert. Außerdem hatte er heimlich Auslandssender gehört. Er war aus dem Kreise seiner Kameraden denunziert und später am 21. Juli 1944 vom Zentralgericht des Heeres wegen "Zersetzung der Wehrkraft" zum Tode verurteilt worden. Biedenbach wurde bereits am 20. September 1944 in Ruhleben erschossen. In der Diözese Fulda wurde sein Andenken in der Nachkriegszeit wach gehalten.


Walter Brückmann (1917-1944)
Der Siegener Luftwaffenobergefreite Walter Brückmann geriet seit Anbeginn seines Militärdienstes mit Vorgesetzten in Konflikt, weshalb er wiederholt die schmerzliche Erfahrung des Wehrmachtstrafvollzuges über sich ergehen lassen musste. Im Sommer 1942 kam er vom Wehrmachtgefängnis Torgau zum "Bewährungsbataillon" 500. Da er nach einem Lazarettaufenthalt seinen Heimaturlaub im Juni 1944 wegen seines Geburtstages bei der Familie um einen Tag überzogen hatte und eine Bestrafung fürchtete, tauchte er in Berlin unter. Brückmann wurde Ende Juli 1944 in Berlin gestellt und am 6. Oktober 1944 wegen Fahnenflucht vom Gericht der Wehrmachtkommandantur Berlin zum Tode verurteilt. Er starb am 14. Dezember des Jahres unter dem Mündungsfeuer eines Erschießungspelotons in Ruhleben.


Johann Hammes (1915-1944)
Der Troisdorfer Metallarbeiter Johann Hammes, der aus einem linkspolitisch geprägten Arbeitermilieu stammte, war seit August 1941 Soldat an der Ostfront. Wegen "Wehrkraftzersetzung" war er bereits 1942 in eines der besonders harten und unmenschlichen so genannten Feldstraflager strafversetzt worden. Als er im September 1944 abermals an der Ostfront in der Hauptkampflinie Kameraden zur Selbstverletzung anstiftete, um sich dadurch dem Kriegsdienst zu entziehen, wurde er verhaftet und am 14. Dezember 1944 vom Gericht der Wehrmachtkommandantur Berlin wegen "Zersetzung der Wehrkraft" zum Tode verurteilt. Am 13. Februar 1945 wurde Hammes durch ein Erschießungskommando der Wehrmacht in Ruhleben exekutiert.


Gustav Heisterman von Ziehlberg (1898-1945)
Der aus einer Offiziersfamilie stammende Generalleutnant Gustav Heisterman von Ziehlberg hatte seit Mai 1944 die Führung der an der Ostfront eingesetzten 28. Jäger-Division. Ziehlbergs Verurteilung zum Tode und seine Erschießung in Ruhleben am 2. Februar 1945 hatten folgenden Hintergrund: Entgegen eines ausdrücklichen Befehls hatte er nach dem 20. Juli den ihm untergebenen Major im Generalstab, Joachim Kuhn, der an der Beschaffung des Sprengstoffs für das Attentat für das Hitler beteiligt war, nicht festnehmen lassen. Er gab Kuhn vielmehr Gelegenheit, sich der Verhaftung durch Erschießen zu entziehen und ermöglichte mittelbar das Überlaufen Kuhns zur Roten Armee. Ziehlberg wurde vom Reichskriegsgericht in Torgau zunächst zu einer Gefängnisstrafe, später wegen Hitlers Intervention zum Tode verurteilt und in Ruhleben erschossen.



Topographischer Befund

Nach Auswertung und Vergleich zeitgenössischer Stadtpläne und Luftbildaufnahmen sowie einer Ortsbegehung mit Zeitzeugen am 01.04.1995 kommen für die Lokalisierung der historischen Erschießungsstätte aller Wahrscheinlichkeit nach zwei Orte in Betracht.
Während zwei Zeitzeugen anlässlich einer Ortsbegehung am 01.04.1995 unabhängig voneinander eine Lokalisierung im Bereich des heutigen Munitionsdepots des Landeskriminalamtes zwischen den Lagerschuppen Nr. 9, 10 und 11 (beim Fire Point No. 6) nahe legen (Anlage 1, Punkt 1; Anlage 2, Punkt 21, lässt die Interpretation der Luftbildaufnahmen vom Februar 1945 außerdem die Lokalisierung einer Sandgrube zu, deren Oberflächenstruktur auf eine Erschießungsstätte schließen lässt. Nach Aktenlage kann es nicht ausgeschlossen werden, dass nicht sogar an zwei verschiedenen Orten in Ruhleben Erschießungen durch die Wehrmacht vorgenommen wurden. In den Dokumenten ist sowohl von einem "Schießplatz Kaserne Ruhleben", als auch vom Schießausbildungsgelände in Spandau im "Neuen Stand" die Rede. In der Murellenschlucht selbst, wie in der Literatur immer wieder missverständlicher Weise behauptet, haben offenbar keine Hinrichtungen stattgefunden.


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