Denkzeichen zur Erinnerung
an die Ermordeten der NS-Militärjustiz
am Murellenberg, Berlin-Charlottenburg

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Desertion - Wehrkraftzersetzung - Widerstand
Oder: vom 20. Juli des einfachen Soldaten, von Peter Steinbach
Rede vom 8.Mai 2002 am Murellenberg

Heute ist unbestritten, dass die Nationalsozialisten einen Rassen- und Weltanschauungskrieg führten. Sein Ziel war die Errichtung eines nationalsozialistischen Herrschaftsbereichs, der sich als Ostimperium weit in den europäischen Osten erstrecken sollte. Unbestritten ist auch: Der Zweite Weltkrieg begann als deutscher Angriffskrieg auf Polen. Zu keiner Zeit handelte es sich deshalb um einen deutschen Verteidigungskrieg und wer heute noch davon spricht, Hitler sei mit dem Angriff auf die Sowjetunion einem Angriff Stalins zuvorgekommen oder gar davon, das, ich zitiere, "Weltjudentum" hätte dem Deutschen Reich den Krieg erklärt, Konzentrationslager seien deshalb eher Gefangenenlager, der steht weiterhin im Bann nationalsozialistischer Kriegspropaganda. Er ist nicht in der Lage, den Weltkrieg zu deuten, der etwa 55 Millionen Menschen das Leben kostete.

Der 2. Weltkrieg als Rassen- und Weltanschauungskrieg: Diese Feststellung - zugleich alle Versuche, die militärischen Aktionen der deutschen Wehrmacht soldatisch zu rechtfertigen, obsolet werden. Diese Einsicht hat noch weitergehende Konsequenzen, über die wir ungern reden.
Denn eigentlich ist jeder deutsche Soldat, jeder Deutsche ein Mittel zum Zweck gewesen, dem sich die Nationalsozialisten verschrieben haben. Nur wenige haben das erkannt, die Zahl derjenigen, die sich verweigerten, ist noch geringer. Sie gingen ein denkbar großes Risiko ein, als sie versuchten, sich aufzuklären, andere nachdenklich zu machen, ihre Enttäuschung und ihrem Entsetzen eine Bahn zu brechen, gar ihr Leben zu retten. Wehrkraftzersetzer, Feiglinge, Verräter seien sie. Dies verkündeten Richter der Militärgerichtsbarkeit, die zum Teil eines Systems der Terrorisierung und Disziplinierung wurden, für das wir nach langer Zeit einen Begriff fanden: mit den Mitteln angeblicher Rechtsprechung betriebener Massenmord aus politischen Gründen. Die Konsequenz dieser Einsicht müsste eigentlich bedeuten, jeden zu respektieren, der sich diesem nationalsozialistischen Krieg entzog, jeden als Opfer anzuerkennen, der in die Räder der Mahlwerke der Kriegsgerichte geraten war.

Rassen- und Weltanschauungskrieg - das heißt: Der Krieg der Wehrmacht war die Voraussetzung für die Vernichtung des europäischen Judentums. Norbert Blüm brachte dies als Arbeitsminister auf die griffige Formel, die Wehrmacht hätte auch Auschwitz verteidigt. Vor diesem Hintergrund ist es schwer, jene ins Unrecht zu setzen, die sich, aus welchen Gründen auch immer, der Mitwirkung an der Fortsetzung des Krieges widersetzt und entzogen haben. Alfred Andersch hat dazu in seiner Veröffentlichung "Kirschen der Freiheit" Richtiges gesagt, als er die Desertion als "seinen 20. Juli l944" bezeichnete.

Lange Jahre hatte sich allerdings nicht der zu rechtfertigen, der bis zum letzten Tage zu der Fahne stand, die das Hakenkreuz trug, oder sich auf einen Eid berief, den bereits 1938 Generaloberst Ludwig Beck als moralisch höchst fragwürdig verworfen und in seiner Geltung bestritten hatte. Vielmehr wurde derjenige moralisch als verwerflich dargestellt, der sich der weiteren Mitwirkung am Krieg als Soldat durch seine Entfernung von der Truppe entzogen hatte.

Dabei wird man gewiss verschiedene Motive unterscheiden können. So sind bereits aus den ersten Kriegstagen Desertionen bekannt, die aus politischen Gründen erfolgten. Fest steht: Deserteure gingen stets ein hohes Risiko für sich und ihre Angehörigen ein und hatten auch keinerlei Sicherheit auf eine bevorzugte Behandlung in der Kriegsgefangenschaft. Manche, die sich als Regimegegner empfanden, ertrugen die Demütigung nicht, die Uniform der Wehrmacht zu tragen, weil sie diese klarsichtig als Werkzeug des NS-Staates und Instrument der Unterdrückung und Gefährdung europäischer Völker erkannt hatten.

In den letzten Kriegsmonaten nahmen Desertionen zu. Dies ist angesichts der desolaten Frontverläufe und der unverantwortlichen Kriegsführung auf deutscher Seite verständlich. Sinnlose Durchhaltebefehle nahmen keinerlei Rücksicht auf die militärische Lage. Befehle, eine "verbrannte Erde" zurückzulassen, machten aus Soldaten immer wieder Angehörige einer bewaffneten Macht, die erkannten, dass die militärische Führung ihnen Verbrechen zumutete und sie dadurch schuldig werden ließ.

Dies zu erkennen, ist die Voraussetzung einer grundsätzlichen Anerkennung des Unrechts, das Deserteuren durch die deutsche Nachkriegsgesellschaft angetan wurde. Ebenso brauchte es Zeit, bis anerkannt wurde, dass die strafrechtliche Verfolgung von Deserteuren unverhältnismäßig und keineswegs pauschal rechtsmäßig war. Vielfach ist überliefert, dass die Urteile gegen Deserteure einen demonstrativen Zweck hatten. Urteile sollten abschrecken, um die militärische Disziplin wiederherzustellen, eine Disziplin übrigens, die die politische und militärische Führung keineswegs immer praktizierte. Vielfach ist überliefert, dass Nationalsozialisten und auch hohe Truppenführer ihre Haut ohne Rücksicht auf die ihnen anvertrauten Zivilisten oder Soldaten zu retten suchten. Statt dessen wurden in Verfahren gegen Deserteure Handlungsspielräume, die der Richter hatte, sehr selten genutzt, weil der Abschreckungseffekt im Vordergrund stand. Auch dies muss berücksichtigt werden, wenn entschieden wird, die Urteile gegen Deserteure grundsätzlich aufzuheben.

Die Gegengründe dieser Argumentation sind häufig gehört worden und reichen von der angeblichen Gefährdung der Front und der Kameraden bis zur Infragestellung der Lauterkeit von Fluchtmotiven und Uberlebenswünschen. Empirisch sind diese Vorwürfe niemals belegt worden, sondern spiegeln bis heute das wichtigste Erklärungsmuster derjenigen, die bis zum Ende des NS-Staates folgebereit und gehorsam blieben. Es ist nicht bekannt, dass Deserteure die Zivilbevölkerung gefährdet hatten.
Denn die Lage der Flüchtlinge wurde durch verantwortungslos verspätete Aufforderungen durch die politische Führung bestimmt, die Flucht zu ergreifen. Soldaten, die sich Flüchtlingen anschlossen, gefährdeten diese nicht, sondern halfen sehr oft, wie die Berichte über Vertreibung und Flucht zeigten.

Angeführt wird auch, dass die Unterschiedlichkeit der Desertionsmotive und deren moralische Bewertung eine pauschale Aufhebung der Urteile erschwere oder gar unmöglich mache. Wer davon ausgeht, dass der NS-Staat ein Unrechtsstaat war, insbesondere dann, wenn er seine rassen- und machtpolitischen Ziele verwirklichte, wird dieses Argument nicht teilen können. Auch das Militärstrafrecht war im NS-Staat zu einem Instrument politischer Unterdrückung germacht worden, was sich nicht zuletzt in den Willkürakten der letzten Kriegsmonate zeigte. Der NS-Staat schlug gleichsam blind um sich und machte die Militärstrafrichter vielfach zu Bütteln. Von deren Verhalten kann man sich nur pauschal und prinzipiell distanzieren. Hinzu kommt, dass in einem durchpolitisierten System wie dem NS-Staat selbst private Gründe politisiert wurden, die Verteidigung menschlicher Handlungsmuster also ein politischer Akt war.

Vor diesem Hintergrund empfehle ich dringend, im Hinblick auf die weitere Aufhebung der Unrechtsurteile aus der NS-Zeit politische Entscheidungen zu fällen, die zu einer grundsätzlichen Rechtfertigung der Desertion im Dritten Reich führen. Einzelfallprüfungen stoßen an eine Grenze, weil es Deserteure aus ganz unterschiedlichen Gründen gab. Dazu gehören Angehörige des Attentatsversuchs vom 20. Juli wie Ludwig von Hammerstein, junge Soldaten wie Erich Loest oder der spätere Pressesprecher des Berliner Senats Winfried Fest. Sie alle sahen keine Schande darin, desertiert zu sein.

Denn es handelte sich um Desertion aus der bewaffneten Macht eines totalitären Staates. Dieser hatte einen umfassenden weltanschaulichen Führungsanspruch erhoben, bei der Verfolgung seiner wie auch immer definierten Gegner keinerlei Verhältnismäßigkeit gewahrt und bis in die letzten Kriegstage hinein seine verbrecherischen Ziele mit dem Kriegsgeschehen verbunden. Deutsche Soldaten wurden nicht durch Deserteure, sondern durch eine skrupellose Kriegsführung gefährdet, die am Ende sogar das deutsche Volk weitgehend abgeschrieben hatte, wie vielfach überlieferte Äußerungen Hitlers belegen. Deshalb ist es auch unangemessen, immer wieder zu betonen, dass Deserteure, die eine sich auflösende Front verlassen hatten, militärisch weiterhin eine wichtige Funktion gehabt hätten - eher im Gegenteil.

So ist es an der Zeit, durch ein klares Bekenntnis zu den Deserteuren, die sich der Mitwirkung an einem aus vielen Gründen verbrecherischen Krieg entzogen, ihrer riskanten und lebensgefährlichen Tat Respekt zu zollen. Dies kann durch die Gesetzgebung geschehen, die sich weiterhin sehr schwer tut und sich im Graben der Einzelfallforderung verschanzt hat, aber auch durch ein Denkmal, das vor allem dann bewegt und beeindruckt, wenn es schlichte Bewunderung vermeidet und uns verwehrt, in der Errichtung und Akzeptanz nur uns selbst zu erhöhen.

Desertion war kein Ausdruck von Feigheit, sondern die Folge von Einsicht. Verantwortungslosigkeit, gar Kameradenverrat oder Gefährdung der Zivilbevölkerung lässt sich dieser Tat nicht zuschreiben. Das Risiko des Deserteurs, von deutscher Hand getötet zu werden, war außerordentlich hoch. Desertion verlangte Konsequenz und Mut. Wer Konsequenz und Mut beweist, ist nicht mehr nur Opfer, sondern er wird zum Täter, zum Täter des Widerspruchs und der Auflehnung, des Widerstands. Das gilt für Regimegegner gleich welcher politischen Richtung, das gilt für Menschen, die sich in ihrem Alltag den Zumutungen des Systems widersetzten, auch für jene, die niemals die Chance hatten, aus dem Zentrum der Macht heraus den Sturz des Gesamtsystems zu betreiben, die aber großen Mut aufbringen mussten, um sich den Verstrickungen zu entziehen, die das Regime mit diabolischer Energie produzierte. Diktatoren wollen Menschen ebenso wie Diktaturen schuldig werden lassen und ziehen sie geradezu planvoll in Verbrechen hinein. Deshalb achten wir jene besonders, die standhielten, denn sie hörten auf ihr Gewissen und folgten ihm selbst dann, wenn es lebensgefährlich war.

Wir Nachlebenden hingegen wollen oftmals und allzu gern das Weltgericht spielen. Wir vergessen, dass wir oft nicht einmal im unserem Alltag, vor allem im Berufsleben, das Maß an Zivilcourage beweisen, welches wir oftmals nachträglich von Menschen fordern, die wussten, was sie riskierten, sie sich nicht beklagten und bis in ihre letzten Lebenssekunden hinein ihrem Widersacher zeigten, was Haltung, Konsequenz, Verantwortung und Courage war.

Wer sind wir, dass wir sagen könnten: "Eine heroische Tat"? Wer sind wir, dass wir die abqualifizieren können, die sich Hitlers Herrschaft entzogen oder andere über sie aufklärten? Wer sind wir, die wir in Zukunft an diesen Spiegeln vorbeigehen, die nicht nur den schweren Gang symbolisieren, den Aufrechte im Jahrhundert der Diktaturen antreten mussten, sondern die auch Prinzipien und Maximen von Menschen reflektierten, die immer wussten, dass jeder Befehl eine Grenze hat. Wir spiegeln uns in diesem Denkmal. Vielleicht dämmert uns dann, dass es Menschen wie wir waren, die hier vorbeigeschleppt wurden, um erschossen zu werden, und vielleicht ahnen wir dann, dass es unsere Aufgabe ist, die Erinnerung an Menschen zu hüten, dass es anständig und notwendig war, die Hakenkreuzfahne, das Symbol der NSDAP und Hitlers Herrschaft, zu verlassen.


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